Den aktuellen Hinweis der US-amerikanischen Zulassungsbehörde FDA, der vor wiederholten oder länger als drei Stunden andauernden Vollnarkosen in der Spätschwangerschaft und bei kleinen Kindern warnt, halten Experten der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) für nicht belegt und sogar gefährlich. Denn: Schwangere, Säuglinge und Kleinkinder werden nur operiert, wenn dies als medizinisch notwendig erachtet wird. Ein diagnostischer oder chirurgischer Eingriff hat zum Ziel, das Risiko für unerwünschte Auswirkungen einer Erkrankung oder eines Akutereignisses auf die weitere körperliche und geistige Entwicklung der werdenden Mutter bzw. des Kindes erheblich zu senken. Daher könnte aus Sicht des Wissenschaftlichen Arbeitskreises Kinderanästhesie (WAKKA) und des Wissenschaftlichen Arbeitskreises Regionalanästhesie und geburtshilfliche Anästhesie (WAKRAGA) – beide AK innerhalb der DGAI – der Verzicht auf eine notwendige Operation, nur um die Anästhesie zu umgehen, oder selbst das Verschieben der OP, gesundheitsgefährdend oder sogar lebensbedrohlich sein. Mit dieser Meinung stehen die deutschen Anästhesisten nicht allein, viele internationale Kollegen und Gremien kritisieren die FDA-Warnung.
Der Hinweis der FDA betrifft in erster Linie die Narkose und Sedierung bei Operationen von werdenden Müttern im letzten Drittel der Schwangerschaft sowie Kindern unter 3 Jahren. Laut FDA könnten längere Anästhesien das sich entwickelnde Gehirn des Kindes beeinträchtigen und zu späteren kognitiven Einschränkungen führen. Die FDA fordert die Fachinformationen der verschiedenen Narkosemittel entsprechend zu ergänzen. Diese Warnung hat Ärzte, werdende Mütter und Eltern mit betroffenen Kindern weltweit stark verunsichert.
Deutsche Anästhesisten beruhigen verunsicherte Frauen und Eltern
Doch die Anästhesisten in Deutschland beruhigen: Zwar wurde im Tiermodell gezeigt, dass die bei einer Vollnarkose verabreichten Medikamente das physiologische (normale) Absterben von Zellen im Gehirn verstärken können. Die Erfahrungen aus den bisherigen Experimenten mit Tieren lassen sich aber nicht einfach auf den Menschen übertragen. So wurden die Mittel in den Tierversuchen meist sehr hoch dosiert und viel länger eingesetzt als bei Operationen von Menschen üblich, um die beschriebenen Veränderungen auszulösen und diese genauer erforschen zu können. Der Ansatz in der Klinik ist jedoch ein völlig anderer: Hier werden die benötigten Arzneistoffe nur so hoch dosiert wie es für die erwünschte Wirkung erforderlich ist, aber gleichzeitig so niedrig wie möglich, um das Risiko für unerwünschte Wirkungen gering zu halten. Es gibt auch keine klinisch prospektive Studie, die die Aussage der FDA untermauert. Eine Auswertung des niederländischen Zwillingsregisters ergab zudem keinen Zusammenhang zwischen Operationen und späteren Teilleistungsstörungen wie Beeinträchtigungen der Aufmerksamkeit, des Lernens, der Motorik oder der Sprachentwicklung.
Die Sicherheit des Patienten im Zusammenhang mit der Narkose hat bei Anästhesisten oberste Priorität. Betroffene Frauen und Eltern haben im Vorgespräch vor einer geplanten Anästhesie> die Möglichkeit, offen über ihre Sorgen zu sprechen. Der Anästhesist wird sie ausführlich über die Art der Narkose und die möglichen Risiken informieren. Stehen längere oder wiederholte Operationen an, wird der Anästhesist auf die Besonderheiten der Situation eingehen.
Quellen:
U.S. Food and Drug Administration (Hg.): FDA Drug Safety Communication (online), 14.12.2016
Becke K. et al., Anästhetika und Sedativa: neue FDA-Warnung für kleine Kinder und Schwangere. Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI)
Society for Pediatric Anesthesia. Response to the FDA Med Watch December 16, 2016
Becke K. et al., Kinderanästhesie. Was wirklich wichtig ist. Deutsches Ärzteblatt, Jg. 114, Heft 4, 27.01.2017
www.patientensicherheit-ains.de
Davidson A., Linscott D, SPANZA, www.spanza.org.au
äin-red, April 2017